Schreibbüro zum blauen Federkiel

Literatur in Tateinheit mit Kunst: Realismus




Epoche des Realismus (1848–1890)


Eisenwalzwerk (Adolph Menzel)



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Begriffserklärung: Der literarische Realismus, meist genauer als bürgerlicher Realismus bezeichnet, beschreibt die Epoche zwischen ca. 1848 und 1890, in der sich Literatur verstärkt dem Wirklichen zuwendet – allerdings nicht im Sinne einer nüchternen Abbildung der Realität, sondern durch eine verklärende, künstlerisch stilisierte Darstellung des Alltäglichen. Es ging nicht um die bloße Reproduktion der Welt, sondern um eine glaubwürdige, ästhetisch gestaltete Verdichtung des bürgerlichen Lebens.

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Ernüchterung als historischer Hintergrund


Die Zeit des Realismus fällt in eine Phase tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 und inmitten der rasch voranschreitenden Industrialisierung richtete sich der Fokus der Menschen wieder verstärkt auf das Private und das Persönliche. Politische Resignation, aber auch ein wachsendes Selbstverständnis des Bürgertums prägten das Denken und Handeln. 

Auch die deutsche Einigung (1871) warf lange Schatten voraus, ebenso wie soziale Spannungen, die sich aus der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich ergaben. In dieser Atmosphäre entstand eine Literatur, die sich auf das Innenleben des Einzelnen, auf menschliche Beziehungen, Arbeit, Herkunft und Moral konzentrierte – fern von Pathos, aber auch fern politischer Kampfeslust.


Die Steinhauer (Gustave Courbet)



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Bedeutung des Realismus für die Literatur


Pragmatismus und eine Fokussierung auf das Wesentliche stehen im Realismus im Vordergrund. Die Sprache der Literatur ist während dieser Epoche wenig verschnörkelt und abgehoben, sondern bleibt auf dem Boden der Tatsachen. Dies wirkt sich auch auf die vorherrschenden Stilmittel und Textsorten aus.


Vernunft als literarisches Werkzeug

Im Realismus wird Beobachtung zum zentralen literarischen Instrument. Autorinnen und Autoren legten Wert auf eine präzise Darstellung gesellschaftlicher Realität, dabei jedoch mit ästhetischem Abstand, oft durch Ironie oder subtile Kritik. 

Der Mensch wird nicht idealisiert, sondern in seiner alltäglichen Wirklichkeit, mit all seinen Schwächen und Ambivalenzen, gezeigt. Statt revolutionärer Ideen tritt die genaue, oft psychologisch nuancierte Beschreibung von Schicksalen, Berufen und sozialen Rollen.


Literarische Besonderheiten

Typisch für den Realismus ist der Fokus auf epische Texte, insbesondere Novellen und Romane, in denen Figuren glaubwürdig, sprachlich maßvoll und mit psychologischer Tiefe gezeichnet werden. 

Lyrik spielt nur eine untergeordnete Rolle, das Drama blieb fast bedeutungslos. Häufig verwendete man Rahmenerzählungen, retrospektive Rückblicke oder eine auktoriale Erzählinstanz, die den Leser leitete, ohne moralisch zu werten.


Stilmittel und Motive

Im Zentrum stehen bürgerliche Lebenswelten, Pflichtgefühl, individuelle Verantwortung, Arbeitsethik, Herkunft, aber auch Themen wie verlorene Ideale, vergebliche Liebe oder schicksalhafte Lebensläufe. Stilistisch dominieren detailreiche Beschreibungen, eine sachliche, oft ironisch unterlegte Sprache, sowie eine klare, strukturierte Erzählweise. 

Reiz und Tiefe entstehen nicht durch laute Dramatik, sondern durch leise Beobachtungen, Doppeldeutigkeiten und ein fast melancholisches Nachdenken über das menschliche Dasein.


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John Maynard (von Theodor Fontane)



John Maynard!

„Wer ist John Maynard?“

„John Maynard war unser Steuermann,
Aushielt er bis er das Ufer gewann,
Er starb für uns, er trägt die Kron’,
Er hat uns gerettet, die Liebe sein Lohn.
John Maynard.“

Die „Schwalbe“ fliegt über den Erie-See,
Gischt schäumt um den Bug wie Flocken von Schnee,
Von Detroit fliegt sie nach Buffalo –
Alle Herzen aber sind frei und froh,
Und die Passagiere, mit Kindern und Frau’n
Im Dämmerlicht schon das Ufer schau’n
Und plaudernd an John Maynard heran
Tritt alles: „Wie weit noch, Steuermann?
Der schaut nach vorn und schaut in die Rund’:
„Noch 30 Minuten … Halbe Stund’.“

Alle Herzen sind froh, alle Herzen sind frei –
Da klingt’s aus dem Schiffsraum her wie Schrei,
„Feuer“ war es, was da klang,
Ein Qualm aus Kajütt’ und Luke drang,
Ein Qualm, dann Flammen lichterloh,
Und noch 20 Minuten bis Buffalo.

Und die Passagiere, buntgemengt,
Am Bugspriet stehn sie zusammengedrängt,
Am Bugspriet vorn ist noch Luft und Licht,
Am Steuer aber lagert sich’s dicht,
Und ein Jammern wird laut: „Wo sind wir? wo?“
Und noch 15 Minuten bis Buffalo.

Der Zugwind wächst, doch die Qualmwolke steht,
Der Kapitain nach dem Steuer späht,
Er sieht nicht mehr seinen Steuermann,
Aber durchs Sprachrohr fragt er an:
„Noch da, John Maynard?“
„Ja, Herr. Ich bin.“
„Auf den Strand. In die Brandung.“
„Ich halte drauf hin.“
Und das Schiffsvolk jubelt: „Halt aus. Halloh.“
Und noch 10 Minuten bis Buffalo.

„Noch da, John Maynard?“ Und Antwort schallt’s
Mit ersterbender Stimme: „Ja, Herr, ich halt’s.“
Und in die Brandung, was Klippe was Stein,
Jagt er die „Schwalbe“ mitten hinein,
Soll Rettung kommen, so kommt sie nur so.
Rettung: der Strand von Buffalo.

Das Schiff geborsten. Das Feuer verschweelt.
Gerettet alle. Nur Einer fehlt!

Alle Glocken gehn; ihre Töne schwell’n
Himmelan aus Kirchen und Kapell’n,
Ein Klingen und Läuten, sonst schweigt die Stadt,
Ein Dienst nur, den sie heute hat:
Zehntausend folgen oder mehr
Und kein Aug’ im Zuge, das thränenleer.

Sie lassen den Sarg in Blumen hinab,
Mit Blumen schließen sie das Grab,
Und mit goldner Schrift in den Marmorstein
Schreibt die Stadt ihren Dankspruch ein:

„Hier ruht John Maynard. In Qualm und Brand,
Hielt er das Steuer fest in der Hand,
Er starb für uns, er trägt die Kron’,
Er hat uns gerettet, die Liebe sein Lohn.
John Maynard.“

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Bedeutende Werke & Vertreter des Realismus:


Wittenberg und der Weg dorthin (Roman, 1853)
Fanny Lewald

Soll und Haben (Roman, 1855)
Gustav Freytag

Der Schimmelreiter (Novelle, 1888)
Theodor Storm

Irrungen, Wirrungen (Roman, 1888)
Theodor Fontane

Effi Briest (Roman, 1895)
Theodor Fontane


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