Epoche der Nachkriegsliteratur (1945–1967)
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Begriffserklärung: Als "Nachkriegsliteratur" wird die deutschsprachige Literatur unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis etwa zur Studentenbewegung 1967 bezeichnet. Sie ist geprägt von der unmittelbaren Auseinandersetzung mit den Folgen des Nationalsozialismus, dem Krieg und dem Zusammenbruch aller politischen und moralischen Ordnungen. Häufig wird sie auch als "Trümmerliteratur" oder "Literatur der Stunde Null" bezeichnet, wobei letzterer Begriff heute kritisch betrachtet wird, da ein vollständiger Neubeginn weder literarisch noch gesellschaftlich möglich war.
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Kultureller Neuanfang als historischer Hintergrund
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 lag Deutschland nicht nur politisch, sondern auch moralisch, wirtschaftlich und kulturell in Trümmern. Die nationalsozialistische Ideologie hatte das Vertrauen in Sprache, Werte und gesellschaftliche Institutionen zerstört.
Viele Schriftsteller standen vor der Aufgabe, einen neuen literarischen Ausdruck zu finden, der weder nationalsozialistisch belastet war noch in die ästhetischen Formen der Vorkriegszeit zurückfiel. Die Teilung Deutschlands in Ost und West führte bald zu unterschiedlichen literarischen Entwicklungen, wobei der westdeutsche Diskurs zunächst von Aufarbeitung und Schweigen, der ostdeutsche von ideologischer Neuausrichtung geprägt war.
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Das Tausendjährige Reich (Triptychon von Hans Grundig) |
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Bedeutung der Nachkriegsliteratur
Im Zentrum der Nachkriegsliteratur stand das Wiederfinden der literarischen und kulturellen Identität. Während der Terrorherrschaft des Nationalsozialismus waren große Teile des deutschen Literaturerbes zerstört worden, etwa durch Bücherverbrennungen. Die Rekonstruktion heimischer Literatur ging dabei Hand in Hand mit der Neuerfindung schriftlicher Ausdrucksweise.
Restauration der Sprache als literarisches Werkzeug
Die zentrale Herausforderung der Nachkriegsliteratur bestand in der Wiedergewinnung einer glaubwürdigen, unideologischen Sprache. Die Autoren suchten nach einem "neuen Realismus", der dem Erlebten Ausdruck verleihen konnte, ohne zu beschönigen oder zu verklären.
Sprachskepsis, Lakonie und ein betont sachlicher Stil prägten viele Texte dieser Zeit. Die Literatur sollte wieder glaubhaft sein und das Verstummen über das Erlebte überwinden.
Literarische Besonderheiten
In der unmittelbaren Nachkriegszeit dominierte die Kurzgeschichte als knappe, verdichtete Ausdrucksform, die das Fragmentarische der Zeit einfing. Es entstanden zahlreiche autobiografische Berichte, Tagebücher, Romane über Krieg und Heimkehr sowie dramatische Stücke mit existenzieller Thematik. Auch die Gruppe 47 spielte eine zentrale Rolle in der Entwicklung einer neuen Literatursprache im Westen.
Stilmittel und Motive
Traumatisierung, Schuld, Verstummen, Trümmer, Heimkehr, moralische Orientierungslosigkeit und der Wiederaufbau sind typische Themen. Die Sprache ist oft karg, bilderarm, fragmentiert und verzichtet auf Pathos. Der metaphorische Raum ist reduziert; stattdessen dominiert das Konkrete, das unmittelbar Erfahrbare.
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Dann gibt es nur eins! (von Wolfgang Borchert) |
Du. Mann an der Maschine und Mann in der
Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du
sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe
mehr machen – sondern Stahlhelme und
Maschinengewehre, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mädchen hinterm Ladentisch und
Mädchen im Büro. Wenn sie dir morgen
befehlen, du sollst Granaten füllen und
Zielfernrohre für Scharfschützengewehre
montieren, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Besitzer der Fabrik. Wenn sie dir morgen
befehlen, du sollst statt Puder und Kakao
Schießpulver verkaufen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Forscher im Laboratorium. Wenn sie dir
morgen befehlen, du sollst einen neuen Tod
erfinden gegen das alte Leben, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Dichter in deiner Stube. Wenn sie dir
morgen befehlen, du sollst keine Liebeslieder,
du sollst Haßlieder singen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Arzt am Krankenbett. Wenn sie dir
morgen befehlen, du sollst die Männer
kriegstauglich schreiben, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Pfarrer auf der Kanzel. Wenn sie dir
morgen befehlen, du sollst den Mord segnen
und den Krieg heilig sprechen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Kapitän auf dem Dampfer. Wenn sie dir
morgen befehlen, du sollst keinen Weizen
mehr fahren – sondern Kanonen und Panzer,
dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Pilot auf dem Flugfeld. Wenn sie dir morgen
befehlen, du sollst Bomben und Phosphor
über die Städte tragen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Schneider auf deinem Brett. Wenn sie
dir morgen befehlen, du sollst Uniformen zuschneiden,
dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Richter im Talar. Wenn sie dir morgen befehlen,
du sollst zum Kriegsgericht gehen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mann auf dem Bahnhof. Wenn sie dir
morgen befehlen, du sollst das Signal zur Abfahrt
geben für den Munitionszug und für den
Truppentransport, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mann auf dem Dorf und Mann in der
Stadt. Wenn sie morgen kommen und dir den
Gestellungsbefehl bringen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mutter in der Normandie und Mutter in
der Ukraine, du, Mutter in Frisko und London,
du, am Hoangho und am Mississippi, du,
Mutter in Neapel und Hamburg und Kairo und
Oslo - Mütter in allen Erdteilen, Mütter in der
Welt, wenn sie morgen befehlen, ihr sollt
Kinder gebären, Krankenschwestern für
Kriegslazarette und neue Soldaten für neue
Schlachten, Mütter in der Welt, dann gibt es
nur eins:
Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN!
Denn wenn ihr nicht NEIN sagt, wenn IHR nicht nein sagt, Mütter, dann:
dann:
In den lärmenden dampfdunstigen Hafenstädten werden die großen Schiffe
stöhnend verstummen und wie titanische Mammutkadaver wasserleichig träge
gegen die toten vereinsamten Kaimauern schwanken, algen-, tang- und
muschelüberwest den früher so schimmernden dröhnenden Leib, friedhöflich
fischfaulig duftend, mürbe, siech, gestorben –
die Straßenbahnen werden wie sinnlose glanzlose glasäugige Käfige blöde
verbeult und abgeblättert neben den verwirrten Stahlskeletten der Drähte und
Gleise liegen, hinter morschen dachdurchlöcherten Schuppen, in verlorenen
kraterzerrissenen Straßen –
eine schlammgraue dickbreiige bleierne Stille wird sich heranwälzen,
gefräßig, wachsend, wird anwachsen in den Schulen und Universitäten und
Schauspielhäusern, auf Sport- und Kinderspielplätzen, grausig und gierig,
unaufhaltsam –
der sonnige saftige Wein wird an den verfallenen Hängen verfaulen, der Reis
wird in der verdorrten Erde vertrocknen, die Kartoffel wird auf den
brachliegenden Äckern erfrieren und die Kühe werden ihre totsteifen Beine wie
umgekippte Melkschemel in den Himmel strecken –
in den Instituten werden die genialen Erfindungen der großen Ärzte sauer
werden, verrotten, pilzig verschimmeln –
in den Küchen, Kammern und Kellern, in den Kühlhäusern und Speichern
werden die letzten Säcke Mehl, die letzten Gläser Erdbeeren, Kürbis und
Kirschsaft verkommen – das Brot unter den umgestürzten Tischen und auf
zersplitterten Tellern wird grün werden und die ausgelaufene Butter wird
stinken wie Schmierseife, das Korn auf den Feldern wird neben verrosteten
Pflügen hingesunken sein wie ein erschlagenes Heer und die qualmenden
Ziegelschornsteine, die Essen und die Schlote der stampfenden Fabriken
werden, vom ewigen Gras zugedeckt, zerbröckeln - zerbröckeln - zerbröckeln
–
dann wird der letzte Mensch, mit zerfetzten Gedärmen und verpesteter
Lunge, antwortlos und einsam unter der giftig glühenden Sonne und unter
wankenden Gestirnen umherirren, einsam zwischen den unübersehbaren
Massengräbern und den kalten Götzen der gigantischen betonklotzigen
verödeten Städte, der letzte Mensch, dürr, wahnsinnig, lästernd, klagend - und
seine furchtbare Klage: WARUM? wird ungehört in der Steppe verrinnen, durch
die geborstenen Ruinen wehen, versickern im Schutt der Kirchen, gegen
Hochbunker klatschen, in Blutlachen fallen, ungehört, antwortlos, letzter
Tierschrei des letzten Tieres Mensch - all dieses wird eintreffen, morgen,
morgen vielleicht, vielleicht heute nacht schon, vielleicht heute nacht, wenn – –
wenn – –
wenn ihr nicht NEIN sagt.
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Bedeutende Werke & Vertreter der Nachkriegsliteratur:
Anna Seghers
Nach Mitternacht (Roman, 1947)
Irmgard Keun
Draußen vor der Tür (Drama, 1947)
Wolfgang Borchert
Der Mensch ist gut (Roman, 1950)
Leonhard Frank
Tauben im Gras (Roman, 1951)
Wolfgang Koeppen
Ansichten eines Clowns (Roman, 1963)
Heinrich Böll
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